– Einst ein vorchristlicher Kultplatz –
“Die Kathedrale von Chartres – wo das Suchen zur Sucht wird” – so beschreibt der Autor Louis Charpentier (1905-1979) diesen besonderen Anziehungspunkt, neunzig Kilometer südwestlich von Paris. Charpentier war ein Suchender, hat sich zeitlebens mit den Rätseln der Vergangenheit und mit verloren gegangenem Wissen beschäftigt. Fragen gestellt.
Die Kathedrale von Chartres ist unbestritten eine der geheimnisvollsten Kathedralen Frankreichs – und damit eine Herausforderung für Generationen. Mit ihrer Architektur, den leuchtenden Glasfenstern und den unvergleichbaren Gewändeskulpturen erinnert sie mich an einen nie enden wollenden Roman, der jedoch so spannend ist, dass man mit dem Lesen sowieso nicht aufhören kann. In jedem Kapitel, auf jeder Seite, die man aufschlägt, entdeckt man etwas Neues, das man bewundern, erforschen oder analysieren kann. So ist Chartres.
Ich selbst war dreimal vor Ort, stehe aber, das gebe ich gerne zu, noch immer am Anfang meiner Entdeckungen.
Neugierig darauf, wie frühere Menschen diese Kathedrale gesehen und beschrieben haben, stieß ich, neben Charpentier, auf den Bildhauer Auguste Rodin, der sie die “Akropolis Frankreichs” nannte, auf den Autor Joris-Karl Huysmans (1848-1907), der einen Roman über sie schrieb, und nicht zuletzt auf den Pariser Maler Jean-Baptist Camille Corot (1796-1875), der sie im Jahr 1830 wie nachstehend gemalt hat:
Chartres hat knapp 40 000 Einwohner und liegt auf einer weiten Ebene an einem Nebenfluss der Seine, der Eure. Die Kathedrale, Bischofssitz des Bistums Chartres, dominiert die Stadt. Das Bauwerk ist über 130 Meter lang und 64 Meter breit. Im Jahr 876 gewann der Ort an Bedeutung, als Karl der Kahle hier eine kleine Kirche weihte und ihr eine ganz besondere Reliquie übergab: Eine als “Sancta Camisia” bezeichnete Tunika, ein Hemd, das angeblich der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria überreichte, als er ihr die Geburt Jesu ankündigte. Diese heilige Reliquie sollte fortan wie ein Magnet die Pilgerscharen anziehen …
Die zwei hohen, ungleichen Türme der Kathedrale von Chartres prägen gewissermaßen die nordfranzösische Landschaft. Gleich, von welcher Straße aus man sich der Stadt nähert, springen sie einem ins Auge. Der gotische Neubau begann um 1194 und dauerte bis 1260. Die Kathedrale, die wir heute sehen, ist eine der wenigen nahezu unverfälschten Bauwerke dieser Epoche, denn sie überstand fast unzerstört den Bildersturm der Hugenotten und die Verwüstungen durch die Französische Revolution. Auch das macht sie einzigartig.
Im Jahr 1908 wurde die Kathedrale Notre-Dame de Chartres zur Basilica minor erhoben und im Jahr 1979 in das Register des Kulturerbes der UNESCO aufgenommen.
Die Fotos können durch Anklicken vergrößert werden!
Chartres – ein vorchristlicher Kultplatz
Es war keine Zufallsentscheidung, weshalb man gerade hier, auf einem Erdhügel, mitten im fruchtbaren Flachland, ein solches Bauwerk errichtet hat: Es handelte sich um einen uralten, vorchristlichen Kultplatz mit einer “wundertätigen” Quelle – ein großes Druidenheiligtum, das selbst in Caesars Bericht über den Gallischen Krieg (De bello gallico) Eingang fand.
Sogar jenseits des Rheins sollen die Kelten “von überall her” nach Chartres gepilgert sein, nachdem es sich herumsprochen hatte, dass die Druiden hier auch eine wundertätige “Virgo paritura” verehrten (eine junge Frau, die noch gebären wird), also vermutlich eine lokale Fruchtbarkeitsgöttin. Leider existiert diese Figur nicht mehr, man hat sie Ende des 18. Jahrhunderts aus der Krypta entfernt und vor dem Westportal der Kathedrale verbrannt.
Doch vielleicht sah sie der “Schwarzen Madonna von Dijon” ähnlich, eine der wenigen heute noch existierenden Madonnendarstellungen, die im Zustand der Schwangerschaft gezeigt werden.
Foto links: Schwarze Madonna von Dijon (virgo paritura), Website HLK.
Chartres – die christliche Baugeschichte
Ein erster christlicher Bau (heute Kathedrale des Aventius genannt), wurde Mitte des 4. Jahrhunderts zu Füßen der gallo-römischen Ringmauer errichtet. Um das Jahr 750 wurde dieser Bau von den Westgoten niedergebrannt. Einen Nachfolgebau zerstörten die Wikinger. Bischof Giselbert ließ ihn im 9. Jh. wieder aufbauen und erweitern.
Auf den berühmten Abt und späteren Bischof von Chartres, Fulbert, geht der Bau der 4. Kathedrale (nun Romanisch) zurück, inklusive der neu geschaffenen Krypta. Bei einem Brand im Jahr 1134, wurde die Westfassade zerstört.
In der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 1194 zerstörte ein weiterer verheerender Brand die halbe Stadt, den Bischofspalast und auch große Teile der Kirche. Doch erneut verschonten die Flammen das seit dem 9. Jh. hier verwahrte Gewand der Muttergottes – eine der kostbarsten Marienreliquien. Der “Schleier Mariens” geht auf eine Schenkung der Kaiserin Irene von Konstantinopel zurück, die die Reliquie im Jahr 800 Karl dem Großen überreichte. Dessen Enkel, Karl der Kahle, stiftete sie dann im Jahr 876 der Kathedrale von Chartres. Heute existiert nur noch ein Stoffrest in der Größe von 30×30 cm.
Die Abbildung der “Sancta Camisia” auf der Kanzel (Foto oben) soll an die wundersame Rettung aus der Feuersbrunst erinnern – und vielleicht auch ein bisschen daran, dass das Hemd, aufgestellt auf der Stadtmauer, einst den Normannenherzog Rollo in die Flucht schlug.
Im Bereich zwischen nördlichem Querschiff und Chor befindet sich, hoch oben auf einer Säule eine weitere Madonnen-Statue aus dem 16. Jahrhundert: Notre Dame du Pilier; sie wurde 2013 restauriert.
Chartres – die “Schule von Chartres”
Von einer “Schule von Chartres” ist eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert die Rede. Hier ist zum einen die Domschule gemeint, die bereits auf das frühe 6. Jahrhundert zurückgeht.
Der berühmte Fulbert von Chartres (+1028, s. Glasfenster unten) war in seiner Eigenschaft als Kanzler des Bischofs bzw. des Domkapitels zugleich Leiter der Domschule. Er sorgte für den Nachschub fähiger Theologen, stattete die umfangreiche Bibliothek mit bedeutenden Werken aus und wird daher oft als “Gründer” der Schule von Chartres bezeichnet. Im Jahr 1006 wurde Fulbert selbst Bischof von Chartres. Fulbert galt als angesehener, aber konservativer Theologe, der seinen Schülern riet, sich an die Schriften der Väter zu halten.
Ihre Blütezeit erreichte die “Schule von Chartres” im 12. Jahrhundert, einer Zeit, in der es in Europa kaum Universitäten gab und jeglicher Unterricht in den Domschulen und Klöstern stattfand. Der Ruf von Chartres sprach sich schnell herum. Aus ganz Europa strömten junge Männer hierher, um Theologie zu studieren. Chartres entwickelte sich fast zwei Jahrhunderte lang als das philosophische, wissenschaftliche und künstlerische Zentrum Frankreichs, wobei man der Philosophie Platons und dessen Konzept einer Weltseele als kosmologisches Prinzip folgte.
Erst als in Paris die Sorbonne gegründet wurde, wo man den Lehren des Aristoteles folgte, verlor Chartres seine Vorrangstellung.
(Foto rechts, HLK 2012)
Chartres – Die Fenster
Glücklicherweise haben auch die herrlichen Fenster die Jahrhunderte überlebt. Sie wurden in der Zeit von 1215 – 1240 geschaffen. Heute besitzt Chartres den wohl größten Bestand an erhaltenen Originalfenstern unter allen Kathedralen.
Viele zeigen das berühmte Chartres-Blau. Das Geheimnis der Herstellung dieser Farbe ist von den Glasmachern mit ins Grab genommen worden. Nach neueren Untersuchungen beruht die Färbung auf Kobalt, das aus dem sächsischen Erzgebirge stammt.
Chartres – die Krypta
Weitgehend vom Brand verschont geblieben ist auch die Romanische Krypta der Kathedrale, der heilende Kräfte nachgesagt wird. Keine andere Krypta wurde durch die Jahrhunderte von so vielen KönigInnen besucht wie die von Chartres. Sie ist jedoch keine Grablege, kein Ort des Todes*, sondern ein Ort des Lebens. Schließlich fand dort unten eine Art “Geburt” statt, denn hier wurde der Wechsel von der heidnischen Virgo paritura zur Virgo qui paeperit vollzogen – also der Jungfrau mit Kind: Notre-Dame-Sous-Terre (Foto rechts unten). Bei der heutigen Madonna handelt es sich um die Kopie einer ersten Ersatzfigur, die man 1857 aus Birnbaumholz geschnitzt und braun eingefärbt hat. In der Krypta, eine der längsten in Europa, sind auch noch alte Fresken erhalten (u.a. auch ein Hinweis auf den Ausbruch der Cholera im Jahr 1832, s. unten)
*Off-topic: Nicht zur Kathedrale, aber zur gallorömischen Geschichte von Chartres gehörend: Im Jahr 2016 machten Archäologen bei Ausgrabungen im Kirchenschiff von Saint-Martin-au-Val in Chartres eine sensationelle Entdeckung. Unter dem Gebäude aus dem 11. Jahrhundert, das auf den Ruinen eines riesigen gallorömischen Heiligtums errichtet wurde, fand man einen winzigen, noch perfekt versiegelten Sarkophag aus weißem Kalkstein, in dem ein Merowinger-Baby lag.
(aus Le Point, Sciences, 21.4.2016)
Chartres – und die Pilger
Die Pilger im christlichen Zeitalter nächtigten für gewöhnlich in der Herberge eines nahegelegenen Benediktinerklosters, wo auch die Kranken versorgt und gepflegt wurden. Unter Bischof Fulbert diente aber auch die Krypta selbst als Lazarett. Mit ihren fast dreißig Jochen (Gewölbeabschnitten) war sie dafür bestens geeignet.
Eigentliches Ziel der Pilgerreise war natürlich die Anbetung der Heiligen Jungfrau – wobei wohl jahrhundertelang beide Figuren verehrt wurden, die Schwarze Druidenmadonna und die (erste) Romanische aus dem Hochmittelalter. (Für das einfache Volk standen sie ja nicht in Konkurrenz zueinander.)
Nachdem die Pilger also ihre Gebete verrichtet hatten, ließen sie sich mit dem Wasser aus dem Heiligen Brunnen besprengen oder tranken davon. Die einen gingen daraufhin nach oben, um sich auf den Weg durchs Labyrinth zu machen (auf Knien!), andere blieben tage- und wochenlang in der Krypta, um Heilung zu finden.
Zum Brunnen: Er wurde im 17. Jh. zugeschüttet, erst zu Beginn des 20. Jh. entdeckte man ihn wieder, wobei man herausfand, dass er rechteckige Fundamente besaß, also gallorömischen Ursprungs war.
Heute, neu aufgemauert, reicht er 33 Meter in die Tiefe bis zum Fluss Eure, ist jedoch versiegt.
Übrigens: Ohne Führung durch diese schummrige Krypta würde man wohl schnell die Orientierung verlieren!
Chartres – und das Labyrinth
Beim Labyrinth von Chartres, entstanden nach 1200, handelt es sich um ein sog. “klassisches” Labyrinth, weil sich, nach einer Beschreibung aus dem Jahr 1640, in der Mitte eine Darstellung des Kampfes von Theuseus mit dem Minotauros befand. Die heidnische Symbolik hat man umgedeutet: Aus Theseus wurde Jesus, der das Böse, also den Minotaurus überwindet. Das aus grauen und schwarzen Steinplatten gefertigte Labyrinth misst über 12 Meter im Durchmesser und ist ein insgesamt 261,50 Meter langer Weg, der sich durch 11 konzentrische Kreise und 34 Kehren auf das Zentrum hinbewegt. Es handelt sich also um einen einzigen, vielfach verschlungenen Pfad, der auf möglichst langer Strecke zum Mittelpunkt führt, und auf dem man sich nicht verlaufen kann, auch wenn dies mitunter den Anschein hat.
Leider kann man das Labyrinth in seiner vollen Schönheit nur Freitags bewundern, wenn die Stühle beiseite geräumt werden. Weil ich es nie schaffte, an einem solchen Tag vor Ort zu sein, hat mir mein inzwischen verstorbener Mann eine kleine Nachbildung für die Hauswand im Garten angefertigt, die mich noch heute freut. Das echte Ablaufen eines Labyrinths habe ich dann später in Schweden nachgeholt, als ich überraschend am Waldrand auf ein solches stieß. (s. meine Fotos oben und unten).
Chartres – und der Ostertanz
Rundtänze haben ihre Wurzeln in der vorchristlichen Zeit: David tanzte vor der Bundeslade, Druidinnen bekamen ihre prophetischen Eingaben während des Tanzes, usw. Auch die Labyrinthe in den christlichen Kathedralen, so unterschiedlich sie sein mögen, sind keine Irrgärten, sondern Tanzplätze für besondere Rituale.
So tanzte man in Chartres im Mittelalter, am Ostersonntag, den Ostertanz, wobei der jeweilige Bischof den Tanz durchs Labyrinth anführte. Die Schrittfolge war vorgegeben. Unter den Klängen des Osterhymnus warfen sich Bischof und die Kleriker, die ihm, teils gegenläufig, durchs Labyrinth folgten, wechselseitig einen goldenen Ball zu. Dieser Ball stellte die Ostersonne dar, das aufgegangene Licht.
(Siehe auch: Mirepoix und Eunate.)
In meinem Thriller “Talmi”, in dem es u.a. um die Cagoten geht, habe ich ebenfalls die alten Ritualtänze thematisiert:
»Sowohl die Steine als auch der Tanz durchs Labyrinth selbst«, fuhr Sabot fort, »waren vermutlich ein Lehrmittel, um entweder zur höheren Erkenntnis zu gelangen oder um ein bestimmtes Wissen zu erfahren – darunter fiel möglicherweise auch die Kunst des Kathedralbaus …”
Chartres – und die Gewändefiguren
Die Kathedrale von Chartres verfügt über neun Portale mit über 1.500 Skulpturen – darunter Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, Apostel, KönigInnen, Heilige und Propheten inbegriffen. Leider kann ich hier nur eine kleine Auswahl der für mich schönsten Kunstwerke zeigen, wobei mich vor allem die ausdrucksstarken Gesichter, die Faltenkaskaden der Gewänder aber auch die prachtvollen Zöpfe der Damen begeistert haben.
Das letzte Foto ist eines der rätselhaftesten, das ich 2012 in Chartres gemacht habe. Noch immer suche ich nach einer Erkärung. Wer steckt hinter diesen gekrönten Häuptern? Der Mann weist indische Züge auf, trägt aber das französische Lilienzepter. Sonderbar finde ich auch die Haltung seiner Hand. Handelt es sich um einen christlichen Segensgruß? Oder doch, woran ich spontan dachte, um eine Mudra-Geste aus dem Buddhismus, die auf einen Lehrer hindeutet?
Fest steht: Überall in der Kathedrale finden sich auch Hinweise auf andere Kulturen und Religionen. Das Weltbild der “Schule von Chartres”, wo man auch eifrig die nichtchristlichen Schriften der Antike studierte, hatte viele Facetten.
Lassen Sie mich mit Bernhardt von Chartres schließen, der ein Gelehrter und Magister an der hiesigen Domschule war, geprägt vom Platonismus seiner Zeit:
“Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen sitzend, um mehr und weiter als sie sehen zu können.”
Bernhardt von Chartres (+ nach 1124); mit den “Riesen” spielte er auf die Gelehrten aus der Antike an.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!