Dass ich mich im September 2015 auf den Weg hinauf nach Nuría machte, lag mal wieder an Ean Begg. Das Sachbuch des englischen Autors “The Cult of the Black Virgin” steht seit Jahren wie festgetackert auf der Packliste für mein Handgepäck. Ean Beggs Studie über das Phänomen der Schwarzen Madonnen, die er im Jahr 1985 veröffentlichte, ging eine Fleißarbeit voraus: Mit einem von ihm entwickelten Fragebogen bereiste er diejenigen Kultplätze in Europa, die mit einer Darstellung der Schwarzen Madonna in Verbindung stehen – darunter Basiliken, Kathedralen und winzige Dorfkirchen. Er notierte alles auf, was er vor Ort erfuhr (heidnische Ursprünge in der Antike, keltische Naturreligionen, volkstümliche Überlieferungen usw.) Eine wahre Fundgrube an nützlichen Informationen, wenn man sich für alte Überlieferungen und Traditionen interessiert.
Hier ein Auszug aus seiner Beschreibung der Madonna von Nuría. Der Ort liegt in fast 2000 Meter Höhe im Norden von Katalonien (Provinz Gerona, nahe der Grenze zu Frankreich):
Der Kult der berühmten Schwarzen Madonna von Nuría (archaisch-rustikal, ohne Schleier) begann, der Legende zufolge, mit dem Einsiedler Gil und seinen Gefährten. Die Statue wurde während der maurischen Okkupation versteckt und war bis 1032 verschwunden. In diesem Jahr erhielt Amadeus, ein Verehrer der Jungfrau Maria, in Damaskus die Anweisung durch einen Engel, sich in die Pyrenäen zu begeben und dort einen Tempel an einem Ort zu errichten, wo ein weißer Stein zwischen zwei Flüssen stehe. Würde er dort graben, so fände er einen großen Schatz. Als er diesen Ort erreichte, konnten ihn die Hirten dort verstehen, obwohl er sie in syrischer Sprache anredete. Am Berghang sah man einen brüllenden Ochsen, der in der Erde grub. An dieser Stelle entdeckte man dann eine lichterfüllte Höhle, in deren Innern man eine Glocke, ein Kreuz, einen großen Tiegel und die Statue fand, die zur Heiligen Jungfrau von Nuria wurde …
Ean Begg, The Cult of the Black Virgin, S. 257 ff
Nuría und der Heilige Gil
Wie von Ean Begg geschildert, beginnt die Geschichte im 7. Jahrhundert nach Christus …
Ein frommer Kaufmann namens Gil* macht sich auf den weiten Weg von Athen in die Pyrenäen, um sich in die Einsamkeit der Berge zurückzuziehen. Sein einziger Kontakt sind fortan die Schäfer und Hirten, mit denen er seine kargen Mahlzeiten teilt. Für sie predigt er und er schnitzt ihnen aus dunklem Holz eine schlichte Madonna. Doch als die Mauren ihn bedrohen, muss er fliehen. Gil versteckt seine Schätze: die Madonna, ein Kruzifix, die Glocke, mit der er die Hirten zur Messe rief, sowie den Kessel, in dem er die Mahlzeiten zubereitete. Dann verschließt er seine Höhlenklause mit schweren Steinen.
Gils Schatz gerät in Vergessenheit …
Nach der Wiederentdeckung im 11. Jahrhundert (Amadeus, Pilger aus Damaskus) verbreitete sich schnell der Ruf, alles in Nuría müsse heilig sein: Die Menschen pulverisieren die Steine, um sie als Medizin zu verwenden. Das Wasser der Quelle neben der Höhle soll Augenkrankheiten heilen. Glocke und Kessel werden gar zum Fruchtbarkeitsritual, das sich ziemlich skurril anhört: Während der Mann die Glocke des Heiligen Gil läutet, steckt die Frau den Kopf in den Kessel und betet zur Schwarzen Madonna. (Doch Vorsicht: jedes Läuten führt angeblich zu einer Geburt! 🙂 ) Wird ein Mädchen geboren, nennt man es selbstverständlich Nuría, wird es ein Junge, heißt er Gil …
Der Kult um Nostra Senyora de Nuría ist bis heute ungebrochen. Unzählige Menschen suchen Jahr für Jahr dieses hochgelegene Dorf auf, um hier Ruhe zu finden und Gebete an die alte Schutzheilige der Pyrenäenschäfer zu richten, die natürlich noch immer auch für den Kindersegen zuständig ist.
Man erzählt sich, es gäbe sehr viele Nurías in Katalonien! 🙂
*Hinter Gil steckt der Heilige Ägidius, der als Einsiedler in der Provence lebte, und um das Jahr 680, unterstützt vom Westgotenkönig Wamba, das Kloster Saint-Gilles gründete.
Sancta Maria de Nuría – heute geweißt!
In der nachgebildeten Eremitenhöhle thront die Madonna (eine Replik), um die Bittgesuche ihrer Besucherinnen und Besucher entgegenzunehmen.
Das Original befindet sich in der Kirche.
Im Netz, s. Foto oben links, existiert noch eine Abbildung der ursprünglichen schwarzen Nuría-Madonna. Diese soll bis ins 17. Jh. in der alten Einsiedelei gestanden haben.
Die heutige buntbemalte Figur mit dem netten Lächeln und den roten Wangen wird offiziell wie folgendermaßen beschrieben:
… In ihrem eigenen Heiligtum hoch in den Pyrenäen,
etwa eine Stunde von Barcelona entfernt,
7. bis 12. Jahrhundert,
56 cm, bemaltes Holz,
kürzlich bei der Restaurierung geweißt.
Nuría und der Templer-Eremit
Nachdem im Jahr 1162 eine Papstbulle den hiesigen Marienkult bestätigte, entstand hundert Jahre später (1271) eine erste Pilgerherberge oben auf dem Berg. Die Pilger wurden von einem Eremitenbruder des Templerordens bewacht und betreut. (In Katalonien gab es etliche Templerkommanderien; die u. a. auch zum Schutz der Pilger auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela dienten. )
Zur Erinnerung an die Templerzeit schmücken in der Kirche von Nuría noch heute Tatzenkreuze selbst die Rücklehnen der Kirchenbänke.
Während des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) hat man die Nuría-Madonna aus Sicherheitsgründen in einem Bankschließfach in der Schweiz untergebracht.
Nuría – die Kirche
Die heutige Kirche stammt aus dem Jahr 1911. Ein Vorgängerbau wurde 1883 auf den Grundmauern der ehemaligen Einsiedelei errichtet.
Am 1. September, am Ägidius Tag, findet alljährlich eine Wallfahrt von Hirten beiderseits der katalanisch-französischen Grenze nach Nuría statt.
Die Originalmadonna befindet sich oberhalb des Altars, gut gesichert hinter Glas. Im Jahr 1956 wurde sie zur Schutzpatronin der Diözöse von Urgel erklärt. 1967 hat man sie gekrönt, danach wurde sie offenbar, so Ean Begg, von einer “katholisch-nationalistischen Gruppe” kurzzeitig gestohlen.
Der Festtag von La Morenita (wie die Frauen ihre Schwarze Madonna liebevoll nennen) ist der 8. September. An diesem Tag feiern alle Frauen mit dem Namen Nuría ihren Namenstag, und die Jungfrau wird in einer Prozession von ihrem Thron in der Kirche zur Einsiedelei des Heiligen Gil getragen.
Die kleinen Bilder bitte anklicken!
Wie in Montserrat kann man auch in der Kirche von Nuría in einem Raum hinter dem Hauptaltar sitzen und meditieren!
Nuría – und die Cremallera, die Zahnradbahn
Das autofreie Gebirgsdorf Nuría ist nicht nur ein Ort der stillen Einkehr, es ist auch ein herrliches Wander- und Ski-Gebiet. Der sog. Camí Vell (der “alte Weg”) führt vorbei an Wasserfällen und tiefen Schluchten. Der Aufstieg (Höhenunterschied 730 Meter; trittsicheres Schuhwerk ist erforderlich) dauert etwa 2,5 – 3 Stunden.
Wem das zu beschwerlich ist, der nimmt die Zahnradbahn, die sog. Cremallera. Karten im Talort Ribes de Freser. Die Fahrt führt über Queralbs (Parkplatz) in das Hochtal. Oben in Nuría gibt es auch Hotelzimmer (Berghotel seit 1931) und Caféterias.
Vielen Dank für Ihr Interesse!
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